»Die Tore aufreißen mit misshandelten Händen«

- Tag der Chormusik -

Maintal Sängerbund begeistert mit brillantem »Canto General«  

Revolutionäre Texte aus dem Chile des 20. Jahrhunderts

 Elsenfeld. »Es ist ein Sym­bol für ei­ne fried­li­che­re, ge­rech­te­re Welt«, so kün­dig­te am Sams­ta­g­a­bend der Prä­si­dent des Main­tal-Sän­ger­bun­des, Her­mann Ar­nold, die Auf­füh­rung des »Can­to Ge­ne­ral« im Bür­ger­zen­trum El­sen­feld (Kreis Mil­ten­berg) an.

LinduschkaEs ist ein Oratorium für zwei Solostimmen, gemischten Chor und Orchester des griechischen Komponisten Mikis Theodorakis, geschrieben auf Texte aus dem Gedichtzyklus des chilenischen Dichters Pablo Neruda von 1950. Gut 20 Jahre nach Erscheinen der Gedichte wurden sie mit der Musik von Mikis Theodorakis uraufgeführt - nicht in Chile, weil dort 1973 der Diktator Pinochet die Regierung von Salvador Allende mit einem Militärputsch blutig beendet hatte. Wieder 50 Jahre später nun die Aufführung am Samstag in Elsenfeld. Eine Wiederholung des Konzerts gab es tags drauf in der Maingauhalle Kleinostheim (Kreis Aschaffenburg).

Musik eines Idealisten

Theodorakis wurde 21 Jahre nach Neruda geboren, beide aber vereinte so viel: der Kampf gegen Unrecht und Diktatur und das Ziel, mit den Mitteln von Literatur und Musik auf demokratischem Weg eine sozialistische Gesellschaft zu etablieren. Das Oratorium »Canto General« ist vielleicht das eindrucksvollste Zeugnis dieses idealistischen Kampfes mit friedlichen Mitteln. Wie groß die Wirkung des »Großen Gesangs« bis heute geblieben ist, konnten die Besucher am Samstag im Elsenfelder Bürgerzentrum, am Sonntag in der Maingauhalle Kleinostheim miterleben.
Das Einzige, was am Samstag enttäuschend war, war die Zahl der Zuhörer, die nicht nennenswert größer war als die der rund 80 Akteure auf und vor der Bühne. Diese rund 100 Besucher aber belohnten die Musiker und Sänger am Ende des zweistündigen Konzerts mit minutenlangem euphorischem Beifall im Stehen und mit lauten Jubelrufen - zu Recht! 
Was die Vokalsolisten, die Altistin Katharina Magiera und der Bariton Georg Thauern, zusammen mit den zwei eigens eingerichteten Projektchören des Maintal-Sängerbundes, einem Jugendchor und einem Generationenchor, und mit dem brillanten Kammerorchester der interkulturellen Plattform BRIDGES Frankfurt am Main unter der eleganten und zugleich präzisen Leitung des Bundes-Chormeister des Sängerbundes Ralf Emge den hochkonzentriert lauschenden Zuhörern boten, war die perfekte Umsetzung eines großen Meisterwerks.

Wut und Verzweiflung

Das begann schon mit dem Outfit der mehr als 50 Sängerinnen und Sänger, die in bunter Kleidung die Vielfalt der Menschen und der Musik spiegelten - zugleich Individualität und harmonisches Miteinander. Die Altistin, seit 14 Jahren Ensemblemitglied der Frankfurter Oper, begeisterte mit ihrer glasklaren, extrem wandlungsfähigen Stimme, die weiche, harmonische Sehnsucht genau so überzeugend in den Saal beamte wie raue, revolutionäre Töne. Sie setzte Wut und Verzweiflung als zwei Bestandteile revolutionärer Musik nahtlos in ihrer Interpretation um. Der Bariton überzeugte mit seiner klaren Artikulation, der Reinheit seiner Stimme in der Höhen und in den Tiefen der Lieder und beide bildeten zusammen mit Chor bis zum abschließenden Duett in »America Insurrecta« einen Klangkörper, dem man nie anmerkte, dass es im Vorfeld nur fünf gemeinsame Proben geben konnte. Das galt auch für die 14 meist jungen Musiker, die in ihrem Orchester mit dem Schwerpunkt auf den Percussioninstrumenten als Begleitung der Stimmen, aber auch bei instrumentalen Passagen ganz sicher auch Theodorakis überzeugt hätten.
Man kann es kurz machen: Die Akteure des Abends ließen keine Wünsche offen und steckten an mit ihrer spürbaren Begeisterung für diese Musik mit der spannenden Mischung aus lateinamerikanischen Rhythmen mit der meist einfachen, dreiklangorientierten Harmonie der Musik des Mikis Theodorakis, die oft an griechische Tänze erinnerte und eine verblüffend harmonische Symbiose mit den Texten Nerudas bildete.

Versöhnung mit der Natur
Diese Verse wurzeln meist im Volk und in der Natur, und die Naturbilder, die zum Greifen anschaulichen bildhaften Vergleich des chilenischen Autors machen auch heute noch den großen Reiz der Lyrik mit politischem Impetus. Poesie und der Aufruf, sich mit aller Macht für eine humane Gesellschaft und für die Versöhnung zwischen Mensch und Natur einzusetzen, sind das Gegenteil einer l'art pour l'art-Haltung, sind zwei Seiten einer Medaille sein wie beim »Canto General«. Eine gute Idee war, dass Thauern vor jedem Lied den zentralen Inhalt rezitierte, noch schöner, dass er das ohne überzogenes Pathos und mit glasklarer Stimme tat. Er überhöhte die Nerudaverse nicht pathetisch, was ihnen in europäischen Ohren meist nicht gut tut und was sie auch nicht nötig haben.
Es war ein überzeugendes Plädoyer für die Kraft von Poesie und Musik, für Humanität und gegen Diktaturen - gerade heute mindestens so wichtig wie vor 50 Jahren. Verlierer gab es am Samstag auch: die Musikfreunde, die nicht den Weg ins Bürgerzentrum gefunden hatten. Vermutlich dürfte das am Sonntag in Kleinostheim besser gewesen sein, weil der Großteil des Chors aus dem Aschaffenburger Raum kam und einige Workshops im Umfeld vermutlich »Werbung« im besten Sinn gemacht haben. Ein Werbung für den Chorgesang nach den schwierigen Coronajahren war es auf jeden Fall, wenn man miterleben konnte, wie der Chor - und natürlich auch die Solisten - selbst anspruchsvollste Passagen der Komposition, Rhythmuswechsel und dynamische Aufgipfelungen souverän und mit spürbarer Freude an der Musik von der Bühne in den Halle zauberten. 

Quelle: Heinz Linduschka/Main-Echo